Jeremias und Rose
Zwanzig Minuten später stand Jeremias vor dem Ausstieg der Untergrundlinie 4, die die Stadt von Nordosten diagonal aufschneidet; sie aber kam aus südwestlicher Richtung; drei mal schon hatte er auf die banderolenförmigen Tableaus geschaut, die die Station von vorn bis hinten durchziehen, um sicher zu gehen, dass er am richtigen Gleis war, bis er sich entschloss nach oben zu steigen, wo er einen besseren Überblick auf die aussteigenden Passagiere hat. Es war ihm nämlich eingefallen, ein Glücksfall, dass diese Station, wo sie verabredet waren, zur Zeit nur einen Ausgang hatte, da der andere wegen Bauarbeiten gesperrt war. Er war sich jetzt sicher, er könne sie nicht verpassen. Also wartete er mit mehr Zuversicht aber auch steigender Unruhe: Die Uhr verhieß nämlich nichts Gutes. Der Termin beim Arzt war schon weit überschritten und die Sprechstundenhilfe würde sie garantiert überschütten mit Gründen, warum sie nicht mehr drankämen, pure bürokratische Schikane, und sie wegschicken. Aber da es sich um einen mehr oder weniger dringenden Notfall handelte, könnten sie diese Karte zücken. Jeremias stand da und wartete. In der Regel bis es dunkel wurde. Dann näherte sich meist einer der Ladenbesitzer rings um die U-Bahn-Station vorsichtig, flüsterte ihm ein paar nette Worte, woraufhin Jeremias dann zögernd seinen Heimweg antrat. In der Regel sprach der Ladenbesitzer dann noch mit einem anderen Ladenbesitzer oder einem der Passanten, die zugegen waren und erzählte, meist die Kurzform, da auch Ladenbesitzer heim müssen, wie tragisch, hach so eine traurige Geschichte war das, vor 3 Jahren das, da stand er genau hier und wartete auf seine schwangere Freundin, die nie kam, da sie auf dem Weg zusammengebrochen und kurz darauf infolge irgendwelcher Komplikationen im Krankenhaus gestorben war, alles während er noch wartete, genau hier, so eine traurige Geschichte alles zusammen und die Vorwürfe, die er sich seither macht, einfach traurig und man ging auseinander, der eine mit hängendem Kopf, der andere um eine Story reicher.