Wozu Mädchen

Wozu, Mädchen

von Carlo Michelstaedter

I

Wozu, Mädchen, schaust du mich an mit den Lichtes vollen Augen,
mit den azurnen tiefen Augen und im Gesicht steigt dir eine Flamme auf?
Keine Sonne hat meine Jugend, es zählt die Jahre nicht mein Herz
meine gepeinigte Seele kennt die Frühlinge nicht.
Mädchen, was hältst du dich auf? wieso näherst du dich meinem Herzen?
wieso, oh Mädchen, ziehst du in dein junges Feuer mein Herz?
Mädchen, kalt ist mein Herz, kalt ist mein Herz und fern,
es spürt nicht den heissen Atem deines jungen Lebens.

II

Wenn an zarten Abenden, im langen feurigen Mittag,
auf bleichen Gesichtern schmeichelnd Amor Verlockungen flüstert,
und wenn der Mai die Brust entfacht dem Manne, der lebt,
schweigt mein Herz, oh Mädchen. –
Und wenn über dunklen Ebenen bleiern der Himmel droht,
auflodert die ribellische Flamme getragen vom Winde des Hasses,
des schmerzlichen Hasses der besiegten Massen,
wenn brennt jedes junge Herz und in der rauchigen Luft
verzweifelte Qualen weint, und ertönt der höchste Schrei,
wenn entbrannt sich die Bögen aller Leben spannen,
schweigt jenes, oh Mädchen.
Und wenn die Mutter von meiner heissen Wimper eine Träne fängt
und wenn der Tod mich berührt, mein Herz krampfhaft drückt,
wenn warm die Augen verfinstert das Blut der Vielen die ich geliebt
schweigt jenes noch immer oh Mädchen.
Und wenn die Menge mich auslacht oder wenn Lob mich erhebt,
und wenn die freche Kraft der Jugend in mir sich regt,
schweigt oh Mädchen mein Herz ein erhabenes unendliches Schweigen.

Ostern 1907

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