Fragment zum Selbstmord
von Giacomo Leopardi
Was lohnt es zu sagen, der Mensch hätte sich verändert? Wenn auch die Natur älter würde oder sich überhaupt verändern könnte etc. Aber da etc. und das Glück, das uns durch die Natur beschieden wird, und die Wege es zu erlangen immer unveränderlich und die selben sind, wohin wird es uns führen, sie verlassen zu haben? Was zeigen uns so viele freiwillige Tode etc., wenn nicht, daß die Menschen dieser Existenz müde sind und ob ihrer verzweifeln? In der Antike brachten sich die Menschen um aus Leidenschaft, aus Heroismus, aufgrund von Illusionen etc. und ihre Tode waren illuster etc. Heute aber, da Heroismus und Illusionen verschwunden, und die Leidenschaften dermaßen erschlafft sind, was hat es zu bedeuten, daß die Zahl der Selbstmorde so viel höher ist, und nicht nur unter illustren Personen, genährt von großen Träumen und wie einst aus großem Unglück, doch in jeder Klasse, so daß diese Tode nicht einmal mehr illuster sind? Was hat es zu bedeuten, daß England hierin immer fruchtbarer war als andere Erdteile? Heißt das, daß man in England mehr meditiert als anderswo, und wo immer man ohne Vorstellungskraft und Enthusiasmus meditiert, man das Leben verachtet; heißt das, daß die Erkenntnis der Dinge den Wunsch nach dem Tode leitet etc. Und heute sieht man Freitode mit aller Kaltblütigkeit begehen. Und tatsächlich, wenn wir die Ehrfurcht vor der Zukunft oder die Hoffnung auf sie verwerfen, ist der nicht mehr so erbärmlich, der berechnend und kühl die Streiche eines nichtigen und toten Lebens abwägt, eines Lebens voller Leid, voll gewisser und unvermeidlicher Langeweile etc. etc. etc.
Und dennoch bleibt der Selbstmord das Monströseste in der Natur etc. etc.
Uns sind Selbsttäuschung und Selbstüberlistung nicht mehr möglich. Die Philosophie hat uns derartig viel kennenlernen lassen, daß jenes Vergessen von uns selbst, das einmal so leicht war, mittlerweile unmöglich ist. Entweder gewinnt die Vorstellungskraft wieder an Kraft und die Illusionen nehmen wieder Gestalt und Substanz in einem tatkräftigen und beweglichen Leben an und das Leben selbst wird wieder zu einer lebendigen statt einer toten Angelegenheit und die Größe und die Schönheit der Dinge werden wieder als Substanz aufscheinen und die Religion wird ihre Achtung wiedergewinnen; oder aber diese Welt wird zu einem Verlies von Verzweifelten und Lebensmüden verkommen, und wahrscheinlich auch zu einer Wüste. Ich weiß wohl, dies alles scheint Traum und Wahn zu sein, wie ich ebenso weiß, daß wer auch immer vor dreißig Jahren diese unermeßliche Revolution von Sachen und Meinungen, welcher wir beiwohnten und noch immer beiwohnen und sogar Teil ihrer sind, vorhergesagt hätte, niemanden gefunden hätte, der seiner würdig genug gewesen wäre, seine Prophezeiungen zu verspotten etc. Jedenfalls ist es unmöglich, dieses Leben, dessen Unglück und Nichts, ohne lebendige Zerstreuungen, und ohne jene Illusionen, auf die die Natur unser Leben errichtet hat, wir kennengelernt haben, weiterzuführen.
Trotz allem ist die Politik weiterhin bestrebt beinahe rein mathematisch, statt
philosophisch zu sein, als ziemte es der Philosophie nicht, nachdem sie alles zerstört hat, sich wieder zu bemühen erbaulich zu sein (obwohl dies doch gegenwärtig ihr wahres Bestreben sein sollte, im Gegensatz zu den Zeiten der Ignoranz) und als ob sie den Menschen niemals etwas Guten bringen sollte, denn hier angelangt hat sie nichts vollbracht als kleine Wohltaten und große Übel.
Der ursprüngliche Zweck der Natur im Variieren der Dinge: die Zerstreuung des Menschen, und ihn nicht zu lange an einem Gegenstand verweilen zu lassen, nicht einmal im Vergnügen, welches, nachdem es lange nur Wunsch war, erst einmal ausgelebt, uns wie Sand durch die Hände läuft, und wie jene Hebräer, die sagten haec est illa Noemis?, wir immer und unvermeidlich sagen werden dies soll also das große Vergnügen sein? Der gesamte Plan der Natur vom menschlichen Leben dreht sich um das große Gesetz Zerstreuung, Illusion und Vergessen. Je mehr dieses Gesetz aber an Kraft verliert, desto mehr gerät die Welt ins Verderben.
Nur wenige vertreten den Gedanken, das Antike sei wahrhaftig glücklicher gewesen, als das Moderne, und diese wenigen erachten es als etwas, worüber nachzudenken nicht lohnt, da die Umstände andere geworden sind. Doch die Natur hat sich nicht verändert, und ein anderes Glück gibt es nicht, und die moderne Philosophie kann sich nichts rühmen, wenn sie nicht dazu fähig ist, uns auf einen Zustand zu reduzieren, in dem wir glücklich sein können. Ob antik oder nicht-antik, es ist beschlossene Sache, daß jenes dem Menschen ziemte, dieses nicht, und daß man damals auch sterbend lebte und man heute lebend stirbt, und daß keine anderen Mittel existieren als jene antiken, um das Leben wieder zu lieben und zu fühlen.
Originaltitel: “Frammento sul suicidio”, geschrieben 1820
Aus dem Italienischen übersetzt von Adrian Giacomelli