Nachwort zu Fusco
Nachwort für einen Überlebenden
Über die Mafia wurde in den vergangenen Jahren auch im deutschen Sprachraum viel geschrieben und diskutiert. Da waren Roberto Savianos Enthüllungen über die neapolitanische Mafia, es wurde geschrieben und spekuliert über die Hintergründe der Duisburger Morde im Auftrag der kalabresischen ‘Ndrangheta, Savianos Buch wurde verfilmt, war Gegenstand zahlreicher Talkshows, und Standardwerke zum Thema Mafia erschienen in großen Publikumsverlagen.
Warum aber Gian Carlo Fuscos »Die Unerwünschten« (“Gli indesiderabili”) mehr als vierzig Jahre unübersetzt blieb, ist wohl letztlich dem Umstand zu verdanken, dass sich populäre Themen und Differenzierung schlecht vertragen. Das Buch erzählt nämlich einen Aspekt der Geschichte der italoamerikanischen Mafia, der dem immer wieder um die gleichen Themen kreisenden Medien-Diskurs zum Thema »Mafia« ein neues, ja unerhörtes Moment hinzufügt. Es ist ein besonderes Buch, denn nur jemand wie Fusco, mit seinen Kenntnissen und vor allem der persönlichen Erfahrung in der Unterwelt, konnte zu seiner Zeit so nahe an die hier gezeichneten Menschen herantreten.
Der aufmerksame Leser wird an manchen brisanten Momenten einen leicht erhöhten Pulsschlag verzeichnen, immer dann wenn der Autor sich erdreistet, die Lebensführung der Ex-Gangster zu kritisieren, worauf jedes Mal ein gefährliches Schweigen entsteht. Trotzdem geht es glimpflich aus, da nur Fusco die nötige street credibility, wie man heute sagen würde, besaß, um sich so weit aus dem Fenster lehnen zu können, mit anderen Worten: nur er konnte sich auf Augenhöhe mit den Mafiosi unterhalten.
Gian Carlo Fusco wurde 1915 in La Spezia geboren. In seinen Adern floss eine bizarre Mischung, wie alte Hafenstädte sie hervorbringen. Der Stammbaum liest sich nicht nur wie ein Register italienischer Städte von Nord bis Süd, sondern verzeichnet auch fernere Wurzeln, englische, argentinische, spanische und sephardische Elemente bis hin zu einer Urgroßmutter, die zur Hälfte Zigeunerin war. Berufe und Tätigkeiten seiner Ahnen und Verwandten sind nicht weniger imposant: ein Urgroßvater war Freimaurer, ein Großvater Zirkusdirektor, ein anderer Anarchist und sein Onkel väterlicherseits war zu seiner Zeit ein berühmter Poet.
1922, beim Marsch auf Rom, war Fusco sieben Jahre alt, ein Kind des Faschismus. Sein Leben lang galt er als dessen wandelndes Geheimarchiv und verdankte dieser Eigenschaft auch seine Karriere als Journalist: Seine erstmals 1949 erschienenen Reportagen über die vielen Lächerlichkeiten, die strategischen und politischen Patzer der Mussolini-Diktatur, an deren erster Stelle der Griechenland-Albanien-Feldzug stand, an dem Fusco selbst teilnehmen musste, trug bereits damals das ihre bei zur italienischen Vergangenheitsbewältigung. Der Faschismus, so Fuscos Botschaft, war entweder zum Heulen oder zum Lachen. Geschrieben in einem damals unerhörten Stil, trocken, knapp und flüssig, mit angelsächsisch kinematografischen Anleihen, bereiteten Fuscos Geschichten die Leserschaft auf die Zukunft vor. »Le rose del ventennio« (“Ventennio” nennt man in Italien die Ära des Faschismus, da sie zwanzig, venti, Jahre gedauert hat), nach dem Krieg als Artikelserie veröffentlicht und 1958 erstmals bei Einaudi als Buch erschienen, sind heute noch, nachdem sie im Jahr 2000 vom sizilianischen Verlag Sellerio Editore Palermo erstmals wieder aufgelegt wurden, ein begehrter Lesestoff: 2010 erschien das Buch in vierter Auflage: ein schmales Bändchen, aber ein prallgefülltes Sammelsunum haarsträubender Geschichten.
Jedem, der sie hören wollte, erzählte Fusco sein Leben lang eine absurde Anekdote aus dem KZ Bergen-Belsen, wo er infolge subversiver Umtriebe in Albanien gelandet war. Eines Tages erhielt er den Befehl, die Latrinen zu putzen, und zwar so blitzblank, dass man sich darin spiegeln können sollte. Gewissenhaft führte Fusco den Auftrag aus. Als der SS-Mann sich das Resultat besah, lobte er ihn mit den Worten »Sehr schön. Intellektueller, wie?« Dabei war Fusco das Gegenteil des zurückgezogenen Dachstubenschriftstellers. Zwar schrieb er sein Leben lang und gehörte zu den beliebtesten Journalisten Italiens. Jedoch war das Schreiben wie für alle ambitionierten Schriftsteller auch für ihn mit Qualen verbunden. Vor allem fand er, dass es ihn von seiner eigentlichen Bestimmung fern hielt, dem Leben, aus dem er seine Geschichten zog, und den Menschen.
War ein Text gedruckt, überließ er ihn seinem Schicksal und suchte schleunigst wieder den Kontakt zu ihnen, wobei er stets die Ausgestoßenen den Privilegierten, die Kriminellen den ordentlichen Bürgern, die Huren den feinen Damen vorzog. Sein Idol blieb Charles Baudelaire, dem er in seinen reiferen Jahren mit einer Romanfigur namens Charles Fiori ein Denkmal setzte.
Fusco trank viel Grappa, und wie alle Alkoholiker war er jähzornig: Es genügte eine Kleinigkeit, damit er an die Decke ging und wie ein neapoletanischer guappo das Messer oder die vom Vater geerbte Pistole zückte, und es ist ein Wunder, dass sie nur ein einziges Mal zum Einsatz kam, besieht man sich die lange Liste an Handgreiflichkeiten, die seine nächtlichen Streifzüge begleiteten. Eines Abends kam es in seinem bevorzugten Nachtlokal, dem »Anthony«, zu einer gefährlichen Begegnung mit dem aufstrebenden Mailänder Boss Francis Turatello, genannt Faccia d’angelo (Engelsgesicht), auf dessen Abschussliste Fusco gelandet war, weil er angeblich Informationen weitergegeben hatte. Große Spannung lag in der Luft. Der Boss saß umringt von Unterhaltungsdamen in einer Sofaecke. Fusco ging hin, zog sein Gebiss heraus und ließ es in Turatellos Whisky fallen. Der schoss in die Höhe die Mädchen sprangen kreischend beiseite, aber das Engelsgesicht rief: »Freundchen, Du bist ganz schön mutig«, und umarmte ihn. Als es schließlich doch einmal zu einer nächtlichen Schießerei kam, bei der Fusco seinen Gegner zum Glück nur streifte, wurde er tags darauf zum Polizeipräsidenten vorgeladen, der Fusco mit ein paar deutlichen Worten nötigte, die Stadt zu verlassen und seinen Wohnsitz nach Rom zu verlegen. Fusco hätte ohne weiteres schon früher auf der Strecke bleiben können, und sein Schriftstellerkollege Beppe Benvenuto lag ganz richtig, als er ihn einen Überlebenden nannte.
Neben dem Alkohol und der Vergnügungssucht sorgte Fuscos unstillbare Neugierde an der mala vita, der Unterwelt, dem Verbrechen und seiner Exekutive, den Ganoven aller Art dafür, dass er die Nächte in Bars und anderen Nachtlokalen statt im eigenen Bett verbrachte. Sein Herz schlug stets für die gesellschaftlich Benachteiligten, und obwohl er wegen »unmoralischem Benehmen« aus der Partei geflogen war, blieb er sein Leben lang Kommunist. Als er längst ein erfolgreicher Journalist war und sich selbst zu den Satten der Gesellschaft zählen durfte, setzte er seiner politischen Gesinnung auf persönliche Art und Weise, mit viel Humor und Historie, nochmals ein Denkmal mit einem gewissermaßen ur-materialistischen Sujet: »L’Italia al dente«, eine Sammlung kurzer Erzählungen, deren Protagonist immer das Essen ist, von wo aus historische Streifzüge in die jüngere Geschichte Italiens unternommen werden.
Doch weder seine kommunistische Gesinnung noch seine Vorliebe für die Randgruppen der Gesellschaft scheinen ihm im Wege gestanden zu haben, als er eines seiner erbaulichsten Bücher schrieb: »Papa Giovanni«. In seinem gewohnt pointierten und anekdotenreichen Stil beleuchtet Fusco das vielseitige Leben Angelo Roncallis, der zwischen 1958 und 1963 als Papst Johannes XXIII. den Stuhl Petri innehatte. Fusco hatte Roncalli, der aus einer armen Bauernfamilie aus der Gegend von Bergamo stammte und stolz war auf seine bescheidene Herkunft, während dessen Zeit als Kardinal und Patriarch von Venedig personlich kennengelernt, nachdem er den lasterhaften Zeitvertreib einiger Franziskanermönche am Strand von Venedig aufgedeckt hatte. Den Journalisten und den Geistlichen verband ein jeweils ganz individuell ausgeprägter Hang zum Unmoralischen. Als Roncalli noch apostolischer Gesandter in Paris und eines Abends der Einladung zu einem eher mondänen Abendessen gefolgt war, zeigte sich ein anderer Gast sehr verblüfft über seine Anwesenheit, worauf der päpstliche Bote ihm freundlich antwortete: »Ist dies ein moralischer Ort, dann dürfen wir beide hier bleiben. Ist es hingegen ein unmoralischer Ort, dann müssten Sie ihn verlassen, während es meine Aufgabe wäre, zu bleiben.«
In Zeitungskreisen war Fusco bereits hinreichend bekannt als Philologe des Verbrechens. Jedoch entstand das Projekt, über die Unerwünschten zu schreiben, vermutlich erst im Jahr 1958, denn bis dahin hatten ihn Krieg und Faschismus noch immer hauptsächlich beschäftigt. Im August des Jahres war in Corleone ein Konflikt zwischen rivalisierenden Mafiafamilien ausgebrochen. Unverzüglich reiste Fusco von Venedig, wo er die Sommer verbrachte, um über das Filmfestival zu berichten und an den anderen Festivitäten der Lagunenstadt teilzunehmen, nach Sizilien. Er verbrachte fast zwei Monate auf der Insel und schrieb eine ausführliche Reportage über die Gesellschaft der zugenähten Münder. Vermutlich fand damals auch die Begegnung mit dem Ex- Gangster Nicola Valente (s. Kapitel Eins) statt. Was Fusco, ein Meister der pointierten Bildsprache, die zugenähten Münder nennt, in Anspielung auf das eherne Gesetz der omertá, wurde zu dem Nährboden, auf dem das organisierte Verbrechen ungehindert über die folgenden Jahrzehnte wuchern konnte. Fusco prophezeite obendrein, dass sich die Mafia schon bald nicht mehr bloß mit Vieh, Schwefel und Orangen begnügen werde, und er sprach von »anderen, bereits anvisierten kostbaren Rohstoffen, die dabei sind, die Insel in einen riesigen Tresor zu verwandeln«. Wahrscheinlich hatte er dank seiner hervorragenden Kontakte
zur Unterwelt längst erfahren, was ein Jahr zuvor bei einem Treffen italoamerikanischer und sizilianischer Bosse im Hotel des Palmes in Palermo beschlossen, aber noch nicht umgesetzt worden war: Sizilien sollte ein zentraler Knotenpunkt des internationalen Drogenhandels werden.
Die Mordserie von 1958 war nur der Quellbach eines reißerischen Stromes an Leid und Blut, den die wirtschaftlichen Interessen dieser neuen Mafia fordern sollten.
Gian Carlo Fusco starb am 17. September 1984 mit 69 Jahren in Rom. Dieses Buch über die sogenannten Unerwünschten, die allesamt ums überleben kämpfen müssen, ist das persönlichste unter seinen Büchern, und niemand anderes konnte es schreiben als er – ein Überlebender.
Anmerkung: Dieser Text erschien 2014 als Nachwort zur Erstübersetzung von Fuscos “Gli indesiderabili” (Sellerio Editore, Palermo, 2003) und findet sich auf den Seiten 142-147 im Band Gian Carlo Fusco, Die Unerwünschten, Berlin, Berenberg, 2014.